In der Diaspora in Deutschland haben die Aleviten ihre Religion neu entdeckt. Junge Leute tanzen wieder den Semah, lernen die Saz spielen und tragen Sweatshirts mit dem Porträt von Imam Ali. Die Alevitische Gemeinde Hannover und Umgebung e.V. ist ein Treffpunkt für alle Generationen.
Starker schwarzer Tee dampft aus den Gläsern. Männer und Frauen diskutieren lebhaft. Ältere Damen lassen die Stricknadeln klappern und kleine Mädchen schauen zu, wie die Strickstücke wachsen. Über ihren Köpfen in der Teestube der Alevitischen Gemeinde Hannover und Umgebung e.V. hängen vierzig Porträts. Wache, junge Gesichter auf vergilbtem Papier. Älter, als sie auf den Bildern sind, sind die Männer und Frauen nicht geworden. 1993 wurden sie bei einem alevitischen Kulturfest in der türkischen Stadt Sivas von radikalen Islamisten ermordet.
Unsere Gebete sind voller Trauer.
„Sivas hat alles ins Rollen gebracht“, sagt Murat Yasik, der Vorsitzende der Gemeinde. „Danach haben wir angefangen, uns zu organisieren.“ Jahrhundertelang haben Aleviten im Verborgenen unter der sunnitisch-muslimischen Mehrheitsgesellschaft in der Türkei gelebt. Niemand kennt ihre genaue Zahl. Schätzungen schwanken zwischen 15 Prozent bis zu einem Drittel der türkischen Bevölkerung. „Unsere Gebete sind voller Trauer. Wir haben in der Geschichte immer verloren“, erzählt der Elektrotechnikermeister. Bei den Cems, den Gebetszeremonien, übernimmt heute noch eine Person die Rolle des Wächters an der Tür. Die Angst hat sich tief in die Spiritualität eingegraben.
Unter den türkischstämmigen Einwanderern in Deutschland finden sich besonders viele Aleviten. Ihre Lebensbedingungen in der Türkei Mitte des 20. Jahrhunderts trieben sie noch häufiger als ihre sunnitisch-muslimischen Landsleute zur Auswanderung. Sivas veränderte ihr Selbstbild von Grund auf. In der Diaspora entdeckten sie ihre Religion neu. Sie besannen sich darauf, dass sie in ihrer Wahlheimat erstmals in der Geschichte ihre Religion frei leben können. Die Gemeinschaft in Hannover, die schon seit den 1980er Jahren als Kulturverein existierte, benannte sich um in „Alevitische Gemeinde“. Ein religiöses Wiedererwachen? Nein, meint Murat Yasik: „Wir sind auferstanden, nicht der Glaube. Der Glaube war immer da.“ Er lässt den Blick über die Menschen schweifen, die sich hier am Sonntagnachmittag treffen: „Das ist wie Therapie hier. Zu Hause würden sie eingehen.“
Alevitischer Alltag: Musik, Fußball, Gemeinschaft
Stolz macht ihn, dass die seit zehn Jahren laufenden Kredite für das Haus in der Nordstadt nun abbezahlt sind. An der Pinnwand hängt ein Zettel mit den Terminen für die Schüler-Nachhilfe: Deutsch, Englisch, Mathe. Und noch eine Ankündigung: Die Gemeinde lädt Kinder und Erwachsene ein, das traditionelle Saiteninstrument Saz zu lernen. Musik spielt eine entscheidende Rolle in der Kultur der Aleviten. Sie trägt ihre Überlieferungen von Generation zu Generation und erklingt, anders als bei Sunniten und Schiiten, auch im Gottesdienst. „Unser Wunsch ist, dass sich jemand von den Musikschülern entscheidet, Zakir zu werden“, erklärt Murat Yasik. Um dieses Amt zu übernehmen und bei den Cem-Zeremonien die Saz zu spielen, genügt es nicht, sein Instrument zu beherrschen: Erforderlich ist auch ein tadelloser Lebenswandel. Und ein Zakir muss bereit sein, sich für sein ganzes Leben zu verpflichten.
Die Gemeinde hat ihren eigenen Fußballclub. Der FC Can Mozaik ist offen für Menschen aller Weltanschauungen. Er startete 1996 als fünfte Mannschaft des SV Werder Bremen. Erst in seiner zweiten Saison konnte er in Niedersachsen antreten. Schuld waren die Tücken des deutschen Verbandswesens: „Einem Kulturverein mochte der Niedersächsische Fußball-Verband keine Lizenz erteilen“, berichtete die Neue Presse damals. An der Gemeinde-Pinnwand hängt eine Autogrammkarte mit Signatur in Goldschrift: Volkan Bulut, heute Co-Trainer bei Schalke 04, sammelte seine ersten Erfahrungen als Coach beim FC Can Mozaik. Verletzungsbedingt musste er seine Laufbahn als Spieler in der Oberliga beenden - und startete im alevitischen Club seine neue Karriere.
Alevitische Identität und Gemeinschaft wird nicht nur in der Nordstadt gepflegt: Im Kulturzentrum Faust in Linden trifft sich der Verein Güneș e.V. Das Wort bedeutet „Sonne“ im Türkischen. Verwandte und Freunde eines weit verzweigten Familienverbandes treffen sich in der Zinsserhalle. „Pizza Güneș“, ein Unternehmen von Familienmitgliedern, versorgt im Faust-Biergarten „Gretchen“ die Gäste mit Nahrhaftem.
Gegen verbindliche Glaubensregeln, für Toleranz und Offenheit
„Wir könnten eine Brücke sein zwischen Islam und Christentum“, schlägt Murat Yasik vor. Der deutschen Öffentlichkeit machen es die Aleviten leicht: Sie lehnen verbindliche Glaubensregeln ab, treten für Toleranz und Weltoffenheit ein. Männer und Frauen beten nebeneinander. Am Așure-Tag, der auf die zwölftägige Fastenzeit im Monat Muharrem folgt, füllt sich der große Saal im Gemeindehaus mit Gästen aus der Stadtgesellschaft. Es ist der wichtigste Tag im alevitischen Kalender – nicht zu verwechseln mit einem Feiertag: „Aleviten haben keine Feiertage“, betont der Vorsitzende: An Așure gedenken die Gläubigen der Ermordung Husains, des Enkels des Propheten Muhammad. Mit der Așure-Suppe wird traditionell das Fasten gebrochen. Sie besteht aus zwölf Früchten und Nüssen und vereint die Geschmacksfarben von süß bis bitter in sich: Ein Symbol dafür, wie Menschen trotz aller Verschiedenheit friedlich nebeneinander leben können.
„Wir sind zu gut integriert“, sagt Murat Yasik. Der Tonfall des Vorsitzenden ist scherzhaft. Aber er meint es ernst: Dank ihrer Unkompliziertheit ist die Gemeinschaft für die deutsche Politik oft unsichtbar. Konflikte mit Aleviten gibt es selten. In der Vergangenheit haben sich Aleviten für eine Trennung von Staat und Religion stark gemacht – aus ihrer Erfahrung in der Türkei heraus, wo der Staat ausschließlich den sunnitischen Islam fördert. Inzwischen verhandeln sie mit dem Land Niedersachsen über einen eigenen Staatsvertrag, eigenen Religionsunterricht eingeschlossen. „Aleviten zahlen Steuern – in der Türkei und in Deutschland. Davon sollten wir ebenso profitieren wie die anderen Religionsgemeinschaften“, wünscht sich Murat Yasik.
Der Text stammt aus dem Buch "Religionen in Hannover", hg.v. Rat der Religionen, Hannover 2016.
ZUM WEITERLESEN:
Krisztina Kehl-Bodrogi, „Was du auch suchst, such es in dir selbst!“ Aleviten (nicht nur) in Berlin. Herausgegeben von der Ausländerbeauftragten des Senats. Berlin 2002
www.berlin.de/auslaenderbeauftragte
Plural. 40 Fragen und Antworten zum Alevitentum. Herausgegeben vom Bund der Alevitischen Jugendlichen in Deutschland e.V. (BDAJ), Redaktion: Mazlum Dogan, Onur Yildirim. Dortmund 2014
www.bdaj.de