Aus dem Kampf der Konfessionen zur Reformationszeit ist ein multikulturelles ökumenisches Miteinander von über 130 christlichen Gemeinden in Hannover geworden.
Der Klimawandel machte den Menschen zu schaffen. Missernten und Hungersnöte folgten auf die globale Abkühlung. Und dann kam in der Mitte des 14. Jahrhunderts die Pest nach Europa. 1350 wütete sie zum ersten Mal in Hannover. Alle zehn Jahre wiederholte sich die Epidemie von da an. Ausgerechnet in diesem Jahrhundert der Katastrophen bauten die Hannoveraner die Kirchen, die bis heute die Silhouette der Altstadt prägen: 1333 wurde die Kreuzkirche geweiht, 1347 folgte die Aegidienkirche. Bereits 1319 hatte man mit dem Neubau der Marktkirche begonnen. Doch es dauerte bis 1388, bis der Dachstuhl fertig gestellt werden konnte. Der Turm wurde nicht mehr nach den ursprünglichen Plänen vollendet. „Die Bauleuthe seind müde und im Säckel krank geworden“, schrieb Georg Hilmar Ising später in seiner Chronica Hannoverana: Die Not war groß und Arbeitskräfte kaum zu bekommen.
Die Marktkirche ist ein Zentralort des Gewissens.
Christen in Hannover sind bis heute stolz darauf, dass die Marktkirche eine Bürgerkirche ist: Kein Landesherr oder Bischof hatte den Bau in Auftrag gegeben oder Einfluss darauf genommen. Dies hieß jedoch nicht, dass hier die sozialen Unterschiede aufgehoben waren: Die Ständegesellschaft, die die Stadt prägte, spiegelte sich jahrhundertelang auch in der Marktkirche. Stühle waren Ratsmitgliedern und Hausbesitzern vorbehalten. Heute dient die Marktkirche in einem anderen Sinn als Bürgerkirche, meint Stadtsuperintendent Hans-Martin Heinemann, der seit 2010 leitender Geistlicher des evangelischen Stadtkirchenverbandes ist: als „Zentralort des Gewissens“ für Bewohner der Stadt aller Weltanschauungen. Die multireligiösen Friedensgebete, mit denen die Hannoveraner 2015 gegen Pegida und für eine tolerante und weltoffene Stadt demonstrierten, gehören, so Heinemann, zu den eindrucksvollsten Erfahrungen seiner Amtszeit.
Der Stadtrat besaß vor der Reformation die Verfügungsgewalt über die Kirchen. Hier wurde lokale Politik gemacht. Als sich die Ideen der Reformation in Hannover verbreiteten, waren damit nicht nur Hoffnungen auf einen religiösen, sondern ebenso auf einen politischen und wirtschaftlichen Wandel verknüpft. Bei den Bürgern, die sich in der Stadtpolitik nicht angemessen vertreten fanden, trafen die Ideen Martin Luthers auf offene Ohren: Bei den Angehörigen der „Meinheit“, die keiner Zunft angehörten, und der „kleinen Ämter“, jener Zünfte, die nicht im Stadtrat vertreten waren. Sie forderten, dass lutherische Predigten erlaubt sein sollten, dass jeder Bürger in der Bibel lesen und Psalmen auf der Straße singen durfte. Die Kaufleute und Handwerksmeister im Rat hielten dagegen am alten Glauben fest.
Hannovers Altstadt wird lutherisch
Das Wandgemälde „Einmütigkeit“ von Ferdinand Hodler im Neuen Rathaus zeigt einen Schlüsselmoment der Reformation in Hannover: Am 26. Juni 1533 versammelten sich die oppositionellen Bürger auf dem Marktplatz und schworen, zur neuen Lehre zu stehen. Von den bewaffneten Oppositionellen wurden die Ratsherren unter Hausarrest gestellt, „altgläubige“ Bürger, wie man die Katholiken damals nannte, unter Drohungen zum Konfessionswechsel gezwungen. Den Ratsherren gelang die Flucht ins katholische Hildesheim. Sie durften erst 1534 zurückkehren, nachdem die Sitze im Rat neu verteilt waren und sie einer lutherischen Kirchenordnung zugestimmt hatten. Wer in der Altstadt leben wollte, musste den neuen Glauben annehmen. Gläubigen anderer Konfessionen wurde die Einreise verweigert: Katholiken, Reformierten und Täufern, die von ihren Gegnern damals „Wiedertäufer“ genannt wurden. Von den damaligen Täufergruppen bestehen heute noch die Mennoniten, während sich die Baptisten heute als theologische Vorläufer auf sie berufen. Bis 1806 blieb die Altstadt rein lutherisch. Andersgläubige konnten keine Bürgerrechte erwerben. Erst seit im Jahr 2000 der ka:punkt eröffnet wurde, gibt es wieder einen Ort für katholische Seelsorge im Gebiet der ehemaligen Altstadt: In einem ehemaligen Teppichgeschäft in der Grupenstraße finden sich Beratungsstellen, eine Kapelle und ein Café mit zahlreichen kulturellen und spirituellen Veranstaltungen.
Mit Herzog Johann Friedrich zog 1665 wieder ein Katholik in die Residenzstadt Hannover ein. Paradoxerweise war er als Landesherr zugleich das Kirchenoberhaupt der lutherischen Hannoveraner. Johann Friedrich legte großen Wert auf Internationalität in seinem Hofstaat: Musiker, Bedienstete und Mönche für das von ihm gegründete Kapuzinerkonvent holte er aus Italien, Frankreich und katholischen Ländern Deutschlands nach Hannover. Hier liegen die Wurzeln für den Neubeginn der katholischen Gemeinde in der Stadt. Von Anfang an war diese Gemeinde multikulturell geprägt. Das ist noch 2016 so: 21 Prozent der Katholiken haben eine nicht-deutsche Staatsangehörigkeit.
Da in der Schlosskirche nun katholische Messen gefeiert wurden, baute Johann Friedrich für seine lutherischen Höflinge die Neustädter Hof- und Stadtkirche. „Ein Katholik hatte den Anstoß zum Bau der ersten protestantischen Predigtkirche Niedersachsens gegeben“, stellte Waldemar R. Röhrbein in dem Buch „Geschichten um Hannovers Kirchen“ pointiert fest. Für Johann Friedrich, der selbst vor seinem Regierungsantritt zum katholischen Glauben konvertiert war, galt die Gewissensfreiheit als hohes Gut. 1671 erließ er ein Toleranzedikt, das Lästern und persönliche Anfeindungen unter den Konfessionen verbot. Gegen eine sorgfältige Prüfung und Diskussion theologischer Argumente hatte der Herzog nichts einzuwenden: Die schriftliche Disputation blieb „uff gewisse Maße unverbotten“.
Dem Katholiken Johann Friedrich folgt ein konfessionsverbindendes Herrscherpaar: Der spätere Kurfürst Ernst-August war Lutheraner, seine Frau Sophie reformiert. Sie war als Religions-Flüchtling im holländischen Exil aufgewachsen und ließ sich im Heiratsvertrag schriftlich zusichern, dass sie ihren reformierten Glauben in Hannover ausüben durfte. 1689 kamen die ersten Hugenotten, wie man die Reformierten aus Frankreich nannte, als Flüchtlinge nach Hannover. In ihrer Heimat durften sie ihren Glauben nicht mehr ausüben, doch in Hannover waren sie willkommen: Die Zuwanderer machten Karriere am Hof und gründeten Manufakturen für Woll- und Seidenstoffe, Lederwaren und Gobelins. In der Calenberger Neustadt, die nicht dem Rat der Stadt, sondern den welfischen Landesherren direkt unterstand, fanden religiöse Minderheiten ein Zuhause. Seit Beginn des 17. Jahrhunderts siedelten hier bereits jüdische Bewohner. 1705, kurz nach der Einweihung der Synagoge, wurde auch das Gotteshaus der Hugenotten fertig. Im gleichen Jahr noch stellten die deutschsprachigen Reformierten ihre eigene Kirche fertig. An ihrer Stelle am Waterlooplatz steht auch die heutige reformierte Kirche.
Wiedervereinigung der Konfessionen? Ein Vorstoß aus Hannover
„Das Heil ist in allen Religionen denen eröffnet, die Gott lieben“, schrieb der Universalgelehrte Gottfried Wilhelm Leibniz, der vierzig Jahre lang, von 1676 bis zu seinem Tod 1716, in Hannover wirkte. Mit dieser Einstellung war er seiner Zeit weit voraus. Als Theoretiker wie als unermüdlicher Netzwerker arbeitete er daran, die Einheit der Konfessionen wiederherzustellen. Hannover wurde zum Zentrum dieses Westeuropa umspannenden Projektes. Leibniz gelang es, keine Geringeren als den deutschen Kaiser, den Papst und den führenden Theologen Frankreichs in seine Korrespondenz einzubeziehen. Trotzdem war ihm und seinem Mitstreiter Gerhard Wolter Molanus, dem Abt des Klosters Loccum, kein Erfolg beschieden. Sie mussten einsehen, dass Frankreich kein politisches Interesse an dem Einigungsprojekt hatte. Die deutschen Fürstentümer waren durch ihre verschiedenen Konfessionen gespalten - und es lief Frankreichs Interessen zuwider, ihren Zusammenhalt zu stärken. Zudem wehte in Hannover politisch ein neuer Wind, seit Ernst Augusts Sohn Georg Ludwig sich anschickte, den englischen Thron zu besteigen: Er wollte keiner Sympathien für die katholische Kirche verdächtigt werden. Hatten die Welfen es doch gerade deswegen auf die vorderen Plätze in der britischen Thronfolge geschafft, weil ihre katholischen Verwandten, die Stuarts, wegen ihres Glaubens davon ausgeschlossen waren.
Dies war die politische Kulisse, vor der die kleine katholische Gemeinde ihr erstes Gotteshaus nach der Reformation erbaute. Um Kurfürst des Deutschen Reiches zu werden, hatte Ernst August den Katholiken seiner Heimatstadt in einem Separatartikel zum Kurvertrag von 1692 dieses Zugeständnis machen müssen. Möglich war ein solcher Bau nur in der Calenberger Neustadt, in der Nachbarschaft der kurz zuvor schon errichteten Neustädter Hof- und Stadtkirche, der Synagoge und der reformierten Kirche. Denn in der Altstadt waren weiterhin nur Lutheraner gelitten und kein Bauplatz vorhanden. Später sollte die Rote Reihe, die die Gotteshäuser verbindet, als „Straße der Toleranz“ in die Stadtführer eingehen.
Eine Italienerin an der Leine
Politisches Taktieren zögerte den Baubeginn immer wieder hinaus. Als die Kirche St. Clemens 1718 endlich geweiht wurde, musste gemäß dem Bescheid aus London alles vermieden werden, woran die protestantische Nachbarschaft hätte Anstoß nehmen können. Papst Clemens XI. hatte die Finanzierung durch zahlreiche Bittbriefe in die katholischen Fürstentümer tatkräftig unterstützt. Zum Dank dafür wurde die Kirche nach dem heiligen Clemens benannt. „Eine Italienerin an der Leine“, nennt der hannoversche Journalist und Kirchenführer Bernward Kalbhenn das im venezianischen Stil errichtete Gotteshaus liebevoll. „Für die norddeutschen Zeitgenossen muss dieser exotische Bau eine Offenbarung gewesen sein“, ist er überzeugt.
Zu diesem Zeitpunkt war die Gemeinde ausgedünnt und das Geld knapp. Denn die meisten Katholiken waren Bedienstete des Hofes – und die Opernsängerinnen, Komödianten, Köche und Perückenmacherinnen waren seit 1714 mit dem Hof nach London weitergezogen. Wäre die Personalunion zwischen England und Hannover nicht gekommen, vielleicht hätte sich die Gemeinde schon damals die prächtige barocke Kuppel leisten können. Doch so, wie die Geschichte verlief, hat St. Clemens sie erst beim Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg bekommen.
Die Kirchen im 19. Jahrhundert: Soziale Arbeit im Fokus
Im 19. Jahrhundert rückten die Kirchen immer mehr das soziale Engagement ins Zentrum ihrer Arbeit: Die Krankenpflege wandelte sich vom „christlichen Liebesdienst“ zu einem modernen Beruf – und bot Frauen die Chance zu einer professionellen Ausbildung. Die evangelischen Diakonissenanstalten und katholische Orden wie die Vinzentinerinnen, die sich der Krankenpflege widmeten, boten Frauen ein neuartiges Arbeits- und Lebensmodell an: Diakonissen und Ordensschwestern lebten auf den Krankenstationen und waren rund um die Uhr für ihre Patienten da. Ihre ganze Biografie spielte sich in der Lebens-, Arbeits- und Glaubensgemeinschaft mit ihren Mitschwestern ab. 1860 wurde die Henriettenstiftung mit zwanzig Betten und drei Diakonieschwestern gegründet. Ende des Jahrhunderts waren es schon mehr als 300 Schwestern im Stammhaus und rund fünfzig Tochtereinrichtungen. Heute gehört das Krankenhaus zusammen mit dem 1843 vom „Frauenverein für Armen- und Krankenpflege“ gegründeten Friederikenstift und dem Annastift (1891 als „Vereinigung zur Förderung bildungsfähiger junger Krüppel“ gegründet) zur DIAKOVERE Krankenhaus GmbH.
Seit 1862 gründeten die Vinzentinerinnen in Hannover zwei Krankenhäuser, ein Waisenhaus und fünf Stifte. Diese Stifte waren nicht nur Wohnheime für ältere Menschen, sondern auch Stützpunkte für die ambulante Krankenpflege und boten außerdem Kindergärten und –horte, Näh- und Haushaltsschulen an. Soziale Arbeit sah man als Aufgabe, die konfessionelle Grenzen überschritt. Das zeigt die Gründung des ökumenischen „Vereins zur Unterstützung der Krankenpflege der Barmherzigen Schwestern in der Stadt Hannover und Linden“ unter dem Vorsitz des Protestanten Geheimrat von Alten. Bis heute betreiben die Ordensfrauen das Vinzenzkrankenhaus, das Altenpflegeheim und die Kita St. Monika und das Hospiz Luise. Prälat Dr. Wilhelm Maxen gründete 1903 zusammen mit engagierten Katholiken den „Katholischen Caritasverband für Hannover und Umgegend“. Bis heute ist der Caritasverband Hannover e.V. mit über 450 Mitarbeitenden für eine gerechte und solidarische Stadt aktiv.
Im Königreich Hannover herrschte noch keine Religionsfreiheit. Die ersten Baptisten, die sich 1843 in einem Gewässer des Ricklinger Holzes taufen ließen, trafen sich im Geheimen und waren stets von Strafen bedroht. Der Missionsarbeiter der Gemeinde wurde einmal in Hildesheim aus einer Versammlung heraus abgeführt und zu vierzehn Tagen Gefängnis verurteilt. Menschen, die sich von der lutherischen Kirche losgesagt hatten, konnten nicht heiraten. Dies änderte sich erst 1866, als Hannover preußisch wurde und damit auch hier die Zivilehe eingeführt wurde. Unter diesen widrigen Umständen gründeten rund vierzig Gläubige 1854 die baptistische Gemeinde, aus der später die evangelisch-freikirche Gemeinde Walderseestraße hervorging.
Die Einführung der Zivilehe und die Reaktion der evangelisch-lutherischen Kirche darauf war zugleich einer Gründe dafür, dass 1878 rund einhundert Christen aus der Kirche austraten und sich zur St. Petri-Gemeinde zusammenschlossen. Sie kritisierten unter anderem, dass die Amtskirche Paare nicht mehr traute, sondern auf dem Standesamt geschlossene Ehen nur noch segnete. Die Ausgetretenen sahen darin einen vorauseilenden Gehorsam der Kirche dem Staat gegenüber. Ebenso wie die etwas später gegründete Bethlehemsgemeinde gehört die St. Petri-Gemeinde heute zur Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche (SELK).
Die Industrialisierung ließ die Gemeinden in Hannover und im damals noch eigenständigen Linden sprunghaft wachsen. Neue Gotteshäuser wurden in einem Ring um die Innenstadt gebaut. Der Architekt Conrad Wilhelm Hase prägte das Stadtbild mit seinen charakteristischen Backstein-Fassaden im neugotischen Stil. Um die Fabrikarbeiter zu erreichen, feierten die evangelischen Gemeinden in Linden Gottesdienste nach Feierabend, Trauungen und Beerdigungen am Sonntag. Der „Volksverein für das katholische Deutschland“ bot Abendkurse und Sozialberatung in seinen „Volksbüros“ an und initiierte die Gründung christlicher Gewerkschaften in Hannover – immer auch in dem Bestreben, die katholischen Arbeiter dem Einfluss der Sozialdemokraten und Marxisten zu entziehen.
Von linker Seite mussten sich die Kirchen den Vorwurf gefallen lassen, nicht politisch für die Arbeiter einzutreten. Das Beispiel der „Warteschule“ in der Mechanischen Weberei in Linden, das Ingrid Engel in dem Buch „Geschichten um Hannovers Kirchen“ schildert, zeigt das Dilemma, in dem die Kirchen steckten: Diakonissen des Henriettenstiftes hatten hier für die Kinder der Arbeiterinnen eine Pflegeanstalt eingerichtet. Kleinkinder wurden in der Nähe ihrer Mütter betreut, die in den Pausen zum Stillen vorbei kommen konnten. Größere Kinder erhielten Vorschulunterricht oder konnten die Zeit zwischen Schulschluss und Schichtende ihrer Eltern hier verbringen. Es gab viel Lob für das Projekt und sogar einen Besuch des Kaiserpaars. Doch die Lindener Sozialisten waren nicht überzeugt: In ihre Augen diente die Warteschule vor allem dazu, dass die Mütter umso fleißiger für die Kapitalisten arbeiteten.
Nationalsozialismus: Bibel, Gesangbuch und „Mein Kampf“ im Gepäck
1922 wurde Hannover zum evangelisch-lutherischen Bischofssitz. Seit der Reformation war der Landesherr zugleich auch Kirchenoberhaupt gewesen, zuletzt war das Kaiser Wilhelm II. Nach dem Ende der Monarchie wurde D. August Marahrens zum ersten Landesbischof gewählt. Er sah sich mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten konfrontiert. Sowohl in seiner Landeskirche wie auf der Ebene der Deutschen Evangelischen Kirche suchte er den Einfluss der führertreuen Deutschen Christen einzudämmen. Doch ein offenes Eintreten für die Verfolgten und gegen die menschenverachtende Ideologie des Nationalsozialismus sucht man vergeblich.
Ein halbes Jahr nach der Machtergreifung marschierten in der Marktkirche braune Formationen auf. Die Gemeinden boten ihre Hilfe beim Erbringen eines Ariernachweises an und rühmten sich, dass die Kirchenbücher seit Jahrhunderten dem deutschen Volk den Weg zu einem „klaren Abstammungsnachweis“ ebneten. Theologiestudenten mussten in Drillichuniform, mit Bibel, Gesangbuch und „Mein Kampf“ im Gepäck zum Schulungsseminar antreten. Mit dem Hinweis auf die Bibel interpretierte der ehemalige Direktor des Historischen Museums, Waldemar R. Röhrbein, das Verhalten Marahrens: „Wer sich der Obrigkeit widersetzt, der widerstrebt Gottes Ordnung“, schrieb der Apostel Paulus (Römer 13,2). Daher, folgerte Röhrbein in dem Band „Geschichten um Hannovers Kirchen“, verbot es sich für Marahrens, offen oder geheim gegen den Staat zu intrigieren.
1938 gelang es der katholischen Kirche, ein neues, der heiligen Mathilde gewidmetes Gotteshaus in Laatzen einzuweihen - was die Nazis in anderen niedersächsischen Städten verhindert hatten. Bilder von der Zeremonie zeigen Hakenkreuzfahnen im Altarraum. Generalvikar Wilhelm Offenstein betonte, die heilige Mathilde sei „eine deutsche Frau, Hausfrau, Mutter“ gewesen, in deren Wesen sich „echtes Christentum, verbunden mit echtem Deutschtum“ spiegele. Zwar konnte man niemandem in der Kirchenleitung Sympathien für die Nazis nachsagen. Im Gegenteil: Propst Heinrich Leupke etwa kam 1934 für zwei Tage in „Schutzhaft“, weil er sich geweigert hatte, beim Tod des Reichspräsidenten Hindenburg die Glocken zu läuten. Doch bei der Einweihungsfeier und anderen Gelegenheiten wurde die Anweisung der Behörden, die Hakenkreuzfahnen zu hissen, sorgsam befolgt. Ein offener Widerspruch gegen die Gräueltaten der Nazis unterblieb auch von Seiten der katholischen Kirche.
Im Zweiten Weltkrieg wurde fast die Hälfte der Kirchen und Kapellen in Hannover zerstört, darunter die mittelalterlichen Kirchen der Innenstadt und die ältesten katholischen Kirchen St. Clemens und St. Marien in der Nordstadt. Während die meisten Gotteshäuser so rasch es ging wieder aufgebaut oder durch Neubauten ersetzt wurden, ließ man die Aegidienkirche als Ruine und Mahnmal stehen. Nach dem Krieg setzte ein wahrer Bau-Boom ein: In der Bundesrepublik wurden so viele Kirchen gebaut wie seit dem Mittelalter nicht mehr. Die heimatvertriebenen Deutschen aus Schlesien, Ostpreußen, Pommern und der Tschechoslowakei ließen die Kirchengemeinden anwachsen. Neue Gemeindegründungen wurden notwendig. Etwa jeder vierte Einwohner des neu gegründeten Landes Niedersachsen war ein Vertriebener. Das katholische Bistum Hildesheim verdreifachte fast die Zahl seiner Mitglieder.
Nach dem Zweiten Weltkrieg: Die Vielfalt wächst
Die Landschaft der christlichen Kirchen in Hannover wurde vielfältiger: Im Displaced Persons Camp feierten ehemalige Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter 1945 den ersten serbisch-orthodoxen Gottesdienst. Einige von ihnen wollten bleiben. Manche fürchteten das neue kommunistische Regime in Jugoslawien, andere hatten eine Partnerin oder einen Partner in Hannover gefunden. Sie durften sich als „heimatlose Ausländer“ in Deutschland niederlassen und gründeten die serbisch-orthodoxe Gemeinde Hl. Sava. Ähnlich entstanden auch die ukrainisch griechisch-katholische, die ukrainisch-orthodoxe Gemeinde und die Polnische Katholische Mission. Vertriebene aus dem Sudetenland und Schlesien schlossen sich 1955 zur alt-katholischen Gemeinde zusammen. Im gleichen Jahr weihte die von rund 500 auf 900 Mitglieder gewachsene evangelisch-freikirchliche Gemeinde ihr Haus in der Walderseestraße ein.
Ein Gebäude, das die Entwicklung der vergangenen Jahrzehnte anschaulich macht, ist die 1962 erbaute evangelisch-lutherische Athanasiuskirche in der Südstadt. In ihren Räumen ist heute das Haus der Religionen zu finden. „Nach den Erfahrungen des Dritten Reiches haben die Christen gebaut wie die Weltmeister. Sie wünschten sich, dass die Kirche ihnen Stabilität gibt“, erklärt Stadtsuperintendent Hans-Martin Heinemann. Die Athanasiuskirche ist ein Beispiel für das Experimentieren mit neuen Bauformen in den 1960er Jahren. Da der Platz zwischen Wohnhäusern und einer Schule begrenzt war, baute man in die Höhe: Der eigentliche Kirchenraum wurde im ersten Stock untergebracht und war von der Straße aus über eine Freitreppe zu erreichen. Nur der frei stehende Glockenturm ließ von außen erkennen, dass es sich um eine Kirche handelte. Im Erdgeschoss und Souterrain befanden sich Gemeinderäume, die das Haus der Religionen heute nutzt. 2013 wurde die Athanasiuskirche entwidmet, also ihre Nutzung als Gotteshaus beendet, und 2015 kauften private Investoren das Haus von der Südstadtgemeinde.
Der demographische Wandel und die nachlassende Bindung der Menschen an die großen christlichen Kirchen machen es seit Anfang des Jahrtausends notwendig, Kirchengebäude, Pfarr- und Gemeindehäuser wieder aufzugeben. Gemeinden werden (wieder) zu größeren Einheiten zusammengelegt. Hans-Martin Heinemann sieht die Entwicklung gelassen: „Es ist nicht christlich gedacht, sich an Dingen festzuhalten“, meint er. „Jesus sagt: Mach dein Leben neu.“ Wie schon sein Vorgänger Wolfgang Puschmann, der den Weg für den Einzug des Hauses der Religionen in die Athanasiuskirche frei gemacht hat, ist Heinemann auf der Such nach neuen Nutzungsmöglichkeiten für die vorhandenen Gebäude: „Damit sie lebendige Orte bleiben.“ So ist 2014 zum Beispiel das Projekt „Stadtkloster – Kirche der Stille“ in das Evangelische Kirchenzentrum Kronsberg eingezogen. Hier werden unterschiedliche Formen christlicher Meditation wieder und neu entdeckt. Außerdem werden Räume des Kirchenzentrums von der baptistischen Gemeinde mit genutzt. Der Trend geht zur „Veränderung im Bestand“, erklärt Heinemann: Die Kirche bleibt in den Stadtteilen präsent, aber versucht, sich baulich zu verkleinern.
Eine zentrale Erkenntnis aus der Reformation, meint Hans-Martin Heinemann, prägt die evangelisch-lutherische Kirche in Hannover bis heute: „Man kann sich das Leben nicht kaufen.“ Für Martin Luther hieß das, dass man sich keinen Platz im Himmel sichern kann, indem man der Kirche Stiftungen macht. Für Protestanten von heute heißt es zum Beispiel: Ein Leben ist wertvoll, auch wenn es wirtschaftlich nicht von Erfolg gekrönt ist. Um wohnungslosen Menschen einen Verdienst in Würde zu ermöglichen, rief das diakonische Werk 1994 das soziale Straßenmagazin „Asphalt“ ins Leben. Vom Verkaufserlös der Zeitschrift, die in zahlreichen niedersächsischen Städten erscheint, können die Verkäuferinnen und Verkäufer die Hälfte behalten. Mit Beratungsstellen, Treffpunkten, der Ökumenischen Essenausgabe und medizinischen Versorgungsstellen versuchen die Kirchen, wohnungslosen Menschen ihren Alltag zu erleichtern.
Was die moderne Hirnforschung bestätigt hat, wussten evangelische Christen schon lange: „Wenn man singt, kann man nicht gleichzeitig Angst haben.“ Martin Luther hat den Gesang der gesamten Gemeinde zum festen Bestandteil des Gottesdienstes gemacht. Für Hans-Martin Heinemann ist das eine Verpflichtung. Seit 63 Jahren spielt der Posaunenchor der evangelischen Stadtmission an jedem Heiligabend um 23 Uhr im Bahnhof. Weit mehr als tausend Menschen singen zusammen in der Bahnhofshalle altbekannte Weihnachtslieder. In zahlreichen Kirchenchören wird das ganze Jahr über musiziert. 2014 wurde die Christuskirche am Klagesmarkt als Internationales Chorzentrum neu eröffnet. Der renommierte Mädchenchor Hannover hat seitdem hier sein Zuhause. Regelmäßig an Sonntagabenden steht die Marktkirche Menschen offen, die das Wochenende singend ausklingen lassen möchten. Mit dem Hannoverschen Kirchenliedermacher und Pastor Fritz Baltruweit hat Heinemann 2015 diese Reihe unter dem Titel „Lieblingslieder“ gestartet. Die Besucher dürfen über das Programm abstimmen. Ein prominenter Gast stellt jeweils sein Lieblingslied vor.
Mariachi auf dem Kirchplatz: Katholiken in Hannover
Für die katholische Kirche in der Region Hannover brachten die 2010er Jahre eine Trendwende: Anders als in der Fläche des Bistums Hildesheim wachsen die Gemeinden hier wieder. Es ziehen mehr katholische Arbeitnehmer, Studierende und Familien in die Landeshauptstadt und die Region, als Mitglieder durch den demografischen Wandel und durch Austritte verloren werden. „Wir müssen uns fragen: Wie anschlussfähig sind unsere Gemeinden für Menschen, die neu zu uns kommen?“, resümiert Propst Martin Tenge, der als Regionaldechant die Katholische Kirche in der Region Hannover leitet. Dem gegenüber steht ein Mangel an Priestern und religionspädagogischen Fachkräften in der katholischen Kirche, der immer deutlicher spürbar wird. Derzeit geht das Bestreben auch im Bistum Hildesheim dahin, bis 2018 keine weiteren Kirchen aufzugeben. Bis dahin haben die Gemeinden die Chance darzustellen, wie sie die Immobilien unter den veränderten Bedingungen nutzen wollen.
„2011 haben wir zusammen festgestellt, dass weniger als die Hälfte der Stadtbevölkerung noch der evangelisch-lutherischen oder der katholischen Kirche angehören“, erinnert sich Propst Martin Tenge. Für ihn war das ein Wendepunkt auch im Verhältnis der beiden großen Kirchen zueinander: „Wir haben uns gesagt, dass es keinen Sinn hat, einander Konkurrenz zu machen. Wenn wir die Menschen weiterhin erreichen wollen, müssen wir zusammen gehen.“
Die Art, den christlichen Glauben zu leben, wandelt sich, stellt Martin Tenge fest. Über 150 Jahre lang wurde katholisches Leben ganz wesentlich von den Verbänden getragen: Frauen, Jugendliche und Arbeitnehmer organsierten sich innerhalb der Kirche und traten für ihre Interessen ein. Die Christen von heute möchten sich nicht so dauerhaft binden. Dabei ist ihre Einsatzbereitschaft nicht kleiner geworden, meint Propst Tenge: „Wir sind beeindruckt, wie viele Gläubige sich für Flüchtlinge engagieren, weil sie christliche Werte praktisch umsetzen wollen. Aber es ist ihnen nicht mehr so wichtig, das unter einem katholischen Dach zu tun.“
Kopfrechnen, Schimpfen und Beten – das tut man in der Muttersprache
Einmal im Jahr weht der Duft von spanischer Paella und argentinischen Steaks über den Kirchplatz von St. Clemens. Auf der Bühne wechseln sich Mariachi aus Mexiko, Cumbia aus Kolumbien und Samba aus Brasilien ab. Bei der „Fiesta Cultural Iberoamericana“ stellen jeden Sommer Katholiken aus vierzehn Spanisch und Portugiesisch sprechenden Ländern ihre Herkunftskulturen vor. „Als katholische Kirche profitieren wir vom Erfahrungsschatz der Weltkirche. Bei uns begegnen sich Menschen aus der ganzen Welt“, kommentiert Propst Tenge. Vom Katholischen Internationalen Zentrum Hannover (KIZH) in der Nordstadt aus reisen Seelsorger zu Gemeinden im ganzen Bistum Hildesheim und betreuen Gläubige aus Kroatien, Italien und allen spanisch sprechenden Ländern in ihren Muttersprachen. Vor Ort im KIZH treffen sich Gläubige noch vieler weiterer Sprachen. Die Polnische Katholische Mission versorgt von der Kirche Maria Frieden in Hannover-Buchholz aus Gemeinden in Verden, Celle, Hildesheim und dem Weserbergland. Die Kirche St. Wolodymyr in Hannover-Misburg ist seit 1984 das Domizil der Ukrainisch griechisch-katholische Gemeinde.
„Kopfrechnen, Schimpfen und Beten – das tut man in der Muttersprache“, sagt Markus Breuckmann, der Koordinator des KIZH, schmunzelnd. Und Propst Martin Tenge ergänzt: „Dass die Gläubigen in ihren Sprachen Gottesdienste feiern und in den Gemeinden Landsleute treffen können, gibt ihnen Sicherheit. Sie sind integriert an ihrem Arbeitsplatz, in der Schule und der Nachbarschaft. Diese Sicherheit, die sie in der Gemeinde finden, ist wie ein Startblock, von dem sie sich abstoßen können.“ Im Katholisch-Internationalen Familienzentrum St. Maria spielen und lernen Kinder aus multikulturellen und deutschstämmigen Familien zusammen.
„Ein Musterbeispiel für Integration“: Evangelische Freikirchen
Integration hat sich auch die Evangelisch-Freikirchliche Gemeinde am Döhrener Turm auf die Fahnen geschrieben: Sie betreibt seit 23 Jahren das Flüchtlingswohnheim Hildesheimer Straße. Mehr als 2.200 Menschen hat das Team schon den Start in Deutschland erleichtert. „Das hier ist ein Musterbeispiel dafür, wie Integration funktioniert“, lobte Thomas Hermann, der erste Bürgermeister der Stadt Hannover, beim Neujahrsempfang der Gemeinde 2016. Aus der Muttergemeinde in der Walderseestraße (List) sind fünf weitere baptistische Gemeinden im Stadtgebiet hervorgegangen, außerdem die christliche Drogenhilfe „Neues Land“, die Mediensuchtstelle „Return“ und das Diakoniewerk Kirchröder Turm.
"Den Namen Baptisten haben wir uns nicht selbst gegeben", erläutert Cornelia Jung, die die Gemeinden im Forum der Religionen vertritt. "Aber ich benutze ihn gerne, weil er etwas über unser Taufverständnis aussagt." Die Baptisten (von griechisch baptizein = untertauchen, taufen) praktizieren die Gläubigentaufe, das heißt Jugendliche und Erwachsene werden erst getauft, wenn sie sich bewusst für den christlichen Glauben entschieden haben. "Das Wichtigste in unserem Glauben ist die persönliche Beziehung zu Jesus Christus", betont Hartmut Bergfeld, Pastor der Evangelisch-Freikirchlichen Gemeinde in der Walderseestraße. "Unser Gemeindeleben ist geprägt von Gemeinschaft und dem ehrenamtlichen Engagement in zahlreichen Gruppen."
Baptisten wollen dem Wirken des Heiligen Geistes, wie es in der Bibel beschrieben wird, viel Raum geben. Alle spirituellen Begabungen (Charismen) sollen sich entfalten können. Während des Gebetes in einer Gruppe kann es passieren, dass jemand plötzlich Gott in einer ihm zuvor unbekannten Sprache lobt oder eine Intuition hat, die ihm prophetisch erscheint. „Hannover war in den 1960er und 70er Jahren ein Zentrum der charismatischen Bewegung“, sagt Hartmut Bergfeld. In jüngerer Zeit sind mehrere neue, unabhängige christliche Gemeinden entstanden, in denen diese „charismatische“ Spiritualität im Fokus steht. So wurden die Ichthys Freie Jesusgemeinde (Vahrenheide) und das Christliche Zentrum Hannover (Am Klagesmarkt) von ehemaligen Pastoren der Gemeinde Walderseestraße gegründet. Mit den Russlanddeutschen, die seit den 1990er Jahren in die Bundesrepublik kamen, wuchs die Zahl der Baptisten stark an. Ihre Praxis ist konservativer als in den deutschen Gemeinden. „Unser Gemeindebund hat versucht, sie zu integrieren. Das ist zum Teil gelungen, zum Teil auch nicht. So haben sie sich größtenteils zu eigenen Gemeinden formiert “, sagt Pastor Bergfeld. Die Vielfalt der freikirchlichen Gemeinden wächst weiter: Im Saal der Kneipe GiG am Lindener Marktplatz feiert die 2012 gegründete Freie evangelische Gemeinde Dreisechzehn sonntags Gottesdienste. Bei der „Serve the City“-Projektwoche gibt sie jedes Jahr Interessierten die Gelegenheit, sich für kurze Zeit in einem Projekt in der Region für andere zu engagieren.
Seit 2013 ist Hannover der Amtssitz der Weltgemeinschaft reformierter Kirchen (WGRK). Ihre Büros finden sich mitten in der Innenstadt, direkt gegenüber der lutherischen Marktkirche. Mit dem Einzug der WGRK könne sich Hannover „Hauptstadt des Protestantismus“ nennen, kommentierte Oberbürgermeister Stefan Schostok bei der Eröffnung. Bereits seit 1949 hat das Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), der zwanzig lutherische, reformierte und unierte Kirchen in der Bundesrepublik angehören, seinen Sitz in Hannover.
Versöhnung in der Diaspora: Orthodoxe Kirchen
Die Serbisch-Orthodoxe Gemeinde Hl. Sava, die nach dem Zweiten Weltkrieg von Displaced Persons gegründet worden war, hatte 35 Jahre lang in der St. Annen-Kapelle der Kreuzkirche ihre Gottesdienste gefeiert. Die griechisch-orthodoxe Gemeinde Hll. Drei Hierarchen kaufte schon 1974 in der Hainhölzer Straße (nahe dem Klagesmarkt) ein Haus als Gemeindezentrum mit einer eigenen Kita, Büros und einer Kapelle. Für die großen Gemeindegottesdienste waren sie allerdings auf die Gastfreundschaft anderer Kirchen angewiesen. Der evangelisch-lutherische Stadtsuperintendent Hans-Werner Dannowski schlug vor, dass beide orthodoxen Gemeinden sich bei der Suche nach einem eigenen Kirchengrundstück zusammen tun sollten. Im Gespräch mit der Stadt Hannover vermittelte er die Lösung: Beide Gemeinden teilen sich ein Grundstück im Industriegebiet nahe Vier Grenzen, jede baute darauf ihre eigene Kirche.
Die Jugoslawienkriege, erzählt Erzpriester Milan Pejic, haben die serbisch-orthodoxe Gemeinde verändert – nicht nur durch die Flüchtlinge, die nach Hannover kamen: Viele Landsleute hatten sich zuvor als Jugoslawen und in der Bundesrepublik als „Gastarbeiter“ verstanden und wollten hier keine festen Bindungen eingehen. Jetzt, nachdem ihr Heimatland Jugoslawien zerbrochen war, entschieden sie sich für die deutsche Staatsbürgerschaft. Ein Zuhause bot ihnen in dieser schwierigen Zeit die Kirchengemeinde. 2015, zwanzig Jahre nach dem Friedensabkommen von Dayton, machten die Vertreter der drei vom Bürgerkrieg betroffenen Religionen in Hannover einen großen Schritt aufeinander zu: Erzpriester Pejic, Horst Vorderwülbecke von der katholischen Kirche und Imam Aldin Kusur von der bosnischen Moscheegemeinde reichten sich im Büro der niedersächsischen Integrationsbeauftragten Doris Schröder-Köpf die Hände.
Heute, erzählt Pater Milan, ist seine Gemeinde sehr bunt. Nur sechzig Prozent der Gläubigen haben serbische Wurzeln. Orthodoxe Christen aus Bulgarien oder Eritrea, Kopten und deutsche Konvertiten schätzen gleichermaßen, dass hier viel in deutscher Sprache gebetet wird. Trotzdem wird die Tradition gepflegt: In den Folklore-Gruppen der Gemeinde sind mehr als einhundert Tänzerinnen und Tänzer aller Generationen aktiv und haben auch schon den Saal im Haus der Religionen zum Kochen gebracht. Die griechisch-orthodoxe Gemeinde schrumpft, berichtet Archimandrit Gerasimos Frangulakis: Von ehemals 8.000 Mitgliedern sind rund 3.000 geblieben. Viele Arbeitsmigranten sind im Rentenalter in ihre Heimat zurückgekehrt.
„Deutschland ist ein farbenfrohes Land in Bezug auf die Orthodoxie“, kommentiert Priester Alexej Tereschenko von der russisch-orthodoxen Maria-Verkündigungs-Gemeinde in Hainholz. In Hannover lässt sich diese Vielfalt erleben: In der griechisch-orthodoxen Kirche feiern auch arabisch sprechende antiochische Christen ihren Gottesdienst. Arabisch ist - neben Aramäisch, der Sprache Jesu - auch die Sprache der syrisch-orthodoxen Christen, die sich in der katholischen Heilig-Geist-Gemeinde in Bothfeld treffen. Rumänische Christen feiern im Stephansstift Gottesdienst, georgische und seit 2015 auch bulgarische sind regelmäßig in der serbisch-orthodoxen Kirche zu Gast. Eine koptische Gemeinde ist in Lehrte, eine makedonische in Laatzen in der Region Hannover zu Hause.
Dass es in der Landeshauptstadt drei russisch-orthodoxe Gemeinden gibt, hängt mit der Nachkriegsgeschichte zusammen: Während des Kalten Krieges war keine Kommunikation zwischen dem Moskauer Patriarchat und den Gläubigen in den westlichen Ländern möglich. Deswegen gründete sich die „Russisch-orthodoxe Kirche im Ausland“, aus der die beiden russisch-orthodoxen Gemeinden in der Plüschowstraße (Vahrenwald) und der Königsworther Straße (Calenberger Neustadt) hervorgegangen sind. Mittlerweile ist die Auslandskirche mit dem Moskauer Patriarchat, unter dem im Jahr 1999 die Maria-Verkündigungs-Kirche gegründet wurde, vereinigt. Hier in Hainholz treffen sich Gläubige aus allen post-sowjetischen Ländern. „Als 2014 der Konflikt in der Ukraine ausbrach, waren wir nicht sicher, ob unsere Mitglieder aus Russland und der Ukraine noch miteinander reden würden“, erinnert sich Alexej Tereschenko. „Aber unsere Angst war unbegründet. Gemeinden in der Diaspora haben eine ganz eigene Dynamik.“ Pater Alexej und die beiden anderen Priester versehen den Dienst in ihrer Freizeit: Tereschenko arbeitet als Anästhesiepfleger und hat berufsbegleitend einen Masterabschluss in Religionswissenschaft erworben. Seine Frau leitet mehrere Chöre und die Gemeindeschule, in der Kinder Nachhilfe bekommen und Russisch lernen. Die Mehrheit der Zugewanderten aus Russland, da bleibt der Priester realistisch, sei religiös nicht interessiert: „Alle orthodoxen Kirchen zusammen erreichen vielleicht zwei Prozent von ihnen.“ Was Pater Alexej umso mehr freut: In seiner Gemeinde wurden seit der Gründung im Jahr 1999 schon über eintausend Menschen getauft.
ZUM WEITERLESEN:
Der Text stammt aus dem Buch "Religionen in Hannover", hg.v. Rat der Religionen, Hannover 2016.
Darin lesen Sie noch mehr darüber, wie in einer christlichen Kita über Gott philosophiert wird, warum sich Christen in der Hospizbegleitung engagieren und warum eine katholische Theologin ihren Job liebt, auch wenn ihre Kirche ihr nicht die gleichen Möglichkeiten bietet wie Männern.
Hans Werner Dannowski und Waldemar R. Röhrbein (Hgg.), Geschichten um Hannovers Kirchen: Studien, Bilder, Dokumente. Hannover 1983
Hans-Georg Aschoff, Um des Menschen willen. Die Entwicklung der katholischen Kirche in der Region Hannover. Hildesheim 1983
Wolfgang Puschmann (Hg.), Hannovers Kirchen. 140 Kirchen in Stadt und Umland. Hannover 2005