Hannover sagt NEIN zu Antisemitismus: Mehr als 600 Menschen aus vielen Religionen trafen sich am 4. Mai 2018 zum Kippa-Walk. Aus Solidarität trugen viele dabei die Kippa, die Kopfbedeckung jüdischer Männer. Vom Rathaus ging es zum Mahnmal für die ermordeten jüdischen Bürgerinnen und Bürger am Opernplatz und weiter zur Kundgebung am Steintor. Propst Martin Tenge, der Sprecher des Rates der Religionen, versicherte allen, die sich wegen ihres Glaubens oder ihrer Herkunft einsam in Deutschland fühlen: "Ihr seid nicht allein! Wir sind gemeinsam ein tolerantes Deutschland."
Hier ist seine Rede im Wortlaut:
Liebe Anwesende bei dieser wunderbaren Veranstaltung,
ich möchte zunächst in unser aller Namen ein herzliches Danke und ein großes Kompliment sagen, dass diese Veranstaltung entstanden ist und dass sich so viele angeschlossen haben. Es ist ein Ausdruck unseres Hannovers, das in Vielfalt lebt. Danke den Initiatoren und danke allen, die gekommen sind.
Ich darf nicht nur für die römisch-katholische Kirche in Hannover sprechen, sondern auch für die evangelisch-lutherische Kirche und die anderen Konfessionen der ACK. In diesem Zusammenhang darf ich herzlich grüßen von der Landessuperintendentin Dr. Petra Bahr und von Stadtsuperintendent Hans-Martin Heinemann.
Zugleich darf ich auch sprechen im Namen des Rates der Religionen in Hannover. Zusammen mit der Muslima Hamideh Mohagheghi sind wir das Sprecherteam des Rates. Wir haben gestern Sitzung gehabt und sehr intensiv und sehr persönlich über die aktuellen Phänomene des Antisemitismus und anderer Formen der Ausgrenzung und Feinschaft in unserer Gesellschaft gesprochen. Wir haben gespürt, wie viele von uns betroffen sind, weil sie aus einem anderen Land oder einer anderen Religion kommen, als es scheinbar Norm zu sein hat. Wir merken, dass es ein ganz großes Erschrecken gibt über Antisemitismus in meinem und unserem Deutschland.
Es ist ein besonderes Problem in Deutschland und wir müssen im Moment feststellen, dass es leider nicht überwunden ist, obwohl wir eine freiheitlich-demokratische Grundordnung haben, obwohl wir einen Wissenstransfer haben: wir können alles wissen über die anderen. Wir brauchen dafür nur ein bisschen Interesse und offene Augen. Wir leben in einem Land der Vielfalt, aber offenbar ist es noch nicht gelungen, diese Vielfalt miteinander zu versöhnen.
Heute haben wir ein Symbol, das viele von uns auf dem Kopf tragen: eine Kippa. Ich merke, mein Kopf fühlt sich ganz wohl darunter. Im Judentum ist es ein Zeichen der Zusammengehörigkeit und der Zugehörigkeit. Zugleich ist es ein Symbol des Respektes, der Ehrfurcht und der Bescheidenheit vor Gott. Insbesondere beim Gebet, aber auch im Alltag.
Wir sehen heute, und dazu lade ich uns ein, uns einmal umzuschauen, auch Menschen, die Kopftuch tragen oder die Takke, die muslimische Kopfbedeckung. Und ich darf es einfach sagen, dass ich mich sehr freue über die muslimische Schwestern und Brüder, die heute hier sind.
Die Kippa als auch die Takke und das Kopftuch sind Zeichen der Solidarität für alle, die von Antisemitismus oder anderen Formen des „Anti-ismus“ betroffen sind. Wir könnte ein große Liste aufmachen von Worten, die mit Anti beginnen und mit –ismus enden.
Die Kippa ist für uns heute nicht nur ein Zeichen des Respektes gegenüber Gott, sondern ein Zeichen des Respektes, der Ehrfurcht und der Bescheidenheit vor den Menschen, voreinander. Kein Mensch darf sich über den anderen erheben und behaupten, er sei wichtiger oder mehr Wert als der andere oder der andere habe weniger Rechte als man selber.
Es macht uns einfach immer wieder betroffen, auch wenn es wohl kein Mehrheitsphänomen ist, dass es aber doch passiert, dass Menschen wegen ihres jüdischen Glaubens aber auch anderer Glaubensrichtungen ausgegrenzt, missachtet und beschuldigt werden. Das darf bei uns nicht passieren.
Viele, die betroffen sind, fühlen sich dann sehr, sehr einsam. Das wiederum führt zu einem Phänomen, das ich sehr bedauere. Es war gestern auch Thema des Gespräches im Rat der Religionen: man fühlt sich dann doch nicht richtig in Deutschland beheimatet. Man hat zwar einen deutschen Pass, fühlt sich aber nicht als Deutsche oder Deutscher. Unser Treffen heute hier soll allen zum Ausdruck bringen, die sich in dieser Situation der inneren Einsamkeit fühlen: ihr seid nicht allein! Wir sind gemeinsam ein tolerantes Deutschland.
Es macht nicht nur betroffen, sondern es ist alarmierend, wenn Menschen in Deutschland so schwach in ihrer eigenen Persönlichkeit sind, dass sie ihre Stärke dadurch gewinnen, dass sie sich über andere erheben und Feindbilder pflegen. Das ist eine Schwäche in der Persönlichkeit. Wir müssen Menschen helfen, stark zu werden. Wie das im Einzelnen gelingen kann, wissen wir auch nicht. Aber wir brauchen das Wahrnehmen dieser Not. An bestimmten Stellen muss man sagen: Stop! So geht das nicht. An anderen Stellen müssen wir sagen: komm in den Dialog! Lerne die Menschen kennen, über du hier redest. Rede mal mit ihnen. Du wirst merken: du brauchst keine Feindbilder, um selber stark zu sein.
Die Angriffe auf Menschen, die sich jüdisch, muslimisch, christlich, hinduistisch, buddhistisch oder als Bahai in der Öffentlichkeit zeigen, erfolgen i.d. Regel nicht durch religiös verblendete Menschen, sondern durch Rassisten und Rechtsradikale. Dagegen müssen wir in Deutschland unbedingt angehen.
Und, liebe Anwesende, wir müssen aufpassen, dass wir am Ende nicht wieder in einen Fehler hineinfallen und doch wieder Feindbilder aufbauen in dem wir z.B. sagen: „Die Muslime sind Schuld!“ Das wäre schrecklich.
Wir brauchen Respekt und Ehrfurcht voreinander. Wir brauchen ein differenziertes Hinschauen. Wir müssen aufpassen, wenn sich Religion, Politik und Nationalismus miteinander vermengen. Dann leiden die Menschen darunter.
Wir werden mit unserer Unterschiedlichkeit in Sachen Nationalität, Herkunft, Kultur, Religion und Weltanschauung immer miteinander ringen müssen. Es ist immer eine Auseinandersetzung mit dem „anderen“, das mir noch nicht bekannt und vertraut ist. Aber ich erlebe es persönlich und weiß es von vielen Menschen, dass der Dialog untereinander eine Bereicherung darstellt. Der Dialog mit anderen führt nicht dazu, dass ich meine Identität verliere. Sondern durch das Kennenlernen von Menschen mit anderem Glauben, anderer Herkunft, anderer Identität und anderer Kultur, wird mein Glaube, meine Identität und meine Kultur bereichert. Hannover macht da in diesem Sinne viel Gutes vor.
Die Kippa, die Takke, das Kopftuch sind heute Zeichen des Respektes vor Gott und den Menschen. Ein Zeichen, das wir fühlen, genau wie die Mütze oder der Hut, die wir tragen. Deshalb möchte ich mich als Zeichen des Respektes vor Gott und vor den Menschen hier in Hannover am Steintor, egal welcher Nationalität oder welchen Glaubens sie sind, verneigen. Und ich hoffe inständig mit allen Menschen guten Willens, dass wir alle in Frieden miteinander leben können und diese Gesellschaft so gestalten, dass jeder Mensch seinen Platz findet, wo er getragen wird, wo er aber auch seinen Beitrag zum Wohl der Gesellschaft gibt.
Und ich lade uns ein: lassen Sie uns doch etwas „Interaktives“ tun, indem wir uns voreinander verneigen, uns begrüßen und mit wohlwollenden Blicken anschauen. In diesem Sinne schenken wir uns eine tiefe Verneigung voreinander.
Propst Martin Tenge, Regionaldechant für die katholische Kirche in der Region Hannover
4.5.2018
Eine Zusammenfassung der anderen Statements können Sie hier nachlesen.
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