Sikhs in Hannover: Geschichte und Gegenwart

    Ein Wedel wird geschwenkt als Ehrbezeugung für den Siri Guru Granth Sahib, das heilige Buch. Foto: Jens SchulzeIn den 1980er Jahren kamen Sikhs als Flüchtlinge nach Hannover, heute als Studierende, Fachkräfte und Messegäste. Jeden Sonntag wird der Gurudwara Sri Nanak Darbar für sie zum Treffpunkt. Zur religiösen Zeremonie gehört auch das gemeinsame Essen.

    Der Guru darf nicht alleine bleiben. Wenn sein Hüter, der Granthi, ihn für eine Weile verlässt, um das Harmonium spielen, dann löst Hari Singh Khalsa ihn ab. Mit gemessenen Bewegungen schwenkt er unablässig einen Wedel in weiten Bögen, um dem Guru seinen Respekt zu erweisen. Dabei ist der Guru, das spirituelle Oberhaupt der Sikhs, schon seit 1708 keine Person mehr, sondern ein Buch: Der Siri Guru Granth Sahib. Jeden Sonntag wird im Gurudwara Sri Nanak Darbar in Hannover-Kleefeld nicht einfach daraus gelesen, sondern die Schrift geehrt wie eine leibhaftige Person. Der Granthi ist nicht nur ein zeremonieller Vorleser, er ist auch jeden Tag fast rund um die Uhr im Gurudwara präsent und hütet den Siri Guru Granth Sahib.

    Dass eine Sikh-Gemeinde in Niedersachsen entstand, hängt mit einem blutigen Konflikt zwischen separatistischen Sikhs und der indischen Regierung in den 1980er Jahren zusammen. Die Situation eskalierte 1984, als die indische Armee im goldenen Tempel in Amritsar, dem zentralen Heiligtum der Sikhs, ein Blutbad anrichtete. Die Premierministerin Indira Gandhi wurde daraufhin von Sikhs aus ihrer eigenen Leibwache ermordet. Viele Gläubige entschieden sich für die Flucht nach Europa oder Nordamerika. Hari Singh Khalsa, der Präsident des Beirates der Gemeinde, deutet im Vorzimmer zum Gebetsraum auf ein Bild nach dem anderen. Auf den Miniaturen erleiden Märtyrer mit unbewegten Gesichtszügen alle nur erdenklichen Todesarten. Hier lässt sich ahnen, wie die religiöse Verfolgung schon seit Jahrhunderten das Selbstverständnis der Sikhs geprägt hat.

    Harjinder Singh Chahal ist nicht als Flüchtling, sondern als Geschäftsmann nach Hannover gekommen. „Ich hätte gerne hier studiert“, erzählt er. „Aber ich habe gesehen, wie andere Inder studiert und hinterher als Kellner gearbeitet haben.“ Also wurde er sein eigener Chef und eröffnete das Restaurant „Taj Mahal“ in der Hinüberstraße. Er begrüßt ein junges Ehepaar, das zum ersten Mal in den Gurudwara gekommen ist. Ein neuer Job hat den Mann nach Hannover geführt. An diesem Sonntag, wenn sich die Sikhs zum Gebet und gemeinsamen Essen treffen, knüpfen die beiden erste Kontakte.

    2003 eröffneten Gläubige aus Hannover und anderen niedersächsischen Städten den „Gurudwara Sri Nanak Darbar“. Rund 250 Familien gehören zur Gemeinde. Das flache, langgestreckte Gebäude im Hof der Berckhusenstraße 13 wurde zuvor vom benachbarten Imbiss genutzt. Jetzt hängt die orangefarbene Fahne des Khalsa, der spirituellen Bruderschaft innerhalb der Sikh-Gemeinschaft, vor dem Eingang. Rund achtzig Gläubige treffen sich an diesem Sonntag. Die Versammlungshäuser werden „Gurudwara“, Tor zum Guru, genannt. Seit 2016 gibt es noch einen zweiten Gurudwara in Hannovers Oststadt. 

    Gott lässt das Haar wachsen, also schneiden wir es nicht ab.

    Hari Singh Khalsa trägt die fünf Ks: das ungeschnittene Haar (Kesh) unter dem Turban, den Holzkamm (Kanga), den ungeschorenen Bart, den Armreif (Kara) aus Eisen, den Dolch an der Seite (Kirpan) und die Unterhose (Kachehra) unter der traditionellen Kleidung. Foto: Jens SchulzeAußer Hari Singh Khalsa trägt noch ein anderer Mann die Attribute des Khalsa, die als „Fünf Ks“ bekannt sind: das ungeschnittene Haar (Kesh) unter dem Turban, den Holzkamm (Kanga), den ungeschorenen Bart, den Armreif (Kara) aus Eisen, den Dolch an der Seite (Kirpan) und die mehrlagige Unterhose (Kachehra) unter der traditionellen Kleidung. Sie sind Symbole für die Tugenden, zu denen sich die Mitglieder des Khalsa verpflichten: Reinheit und Selbstbeherrschung, Liebe zu Gott, Tapferkeit und Einsatz für das Gute.

    „Gott lässt das Haar und den Bart wachsen, also schneiden wir es nicht ab“, erklärt Hari Singh. Nach dem 11. September 2001, berichten die beiden Männer, wurden sie häufig für Muslime gehalten und angefeindet. Die anderen Männer im Gurudwara sind westlich gekleidet. Alle Gläubigen und Besucher müssen jedoch das Haar bedecken. Die Männer knoten ein schlichtes Tuch um den Kopf, die Frauen tragen farbenprächtige Schleier.

    Nach dem zeremoniellen Ablauf aus dem Lesen des Siri Guru Granth Sahib, den Gesängen und Gebeten verwandelt sich der Gebetsraum: Die Heilige Schrift wird hinter einem Vorhang verborgen. Die langen Stoffbahnen, auf denen die Gläubigen gesessen haben, werden eingerollt. An ihre Stelle treten zwei Bahnen von PVC-Auslegeware, die zu langen Tafeln werden. An der einen Seite nehmen die Männer, an der anderen die Frauen Platz. Aus großen Schüsseln werden Brot, Reis, Salat und Gemüse verteilt. Die Männer bedienen, die Frauen haben Pause. Auch der Messegast, der vor dem Rückflug nach Indien noch den Gurudwara besucht, hilft mit und schenkt Wasser aus. Das kostenlose vegetarische Essen ist ein fester Bestandteil der Zeremonie. Die Gespräche verstummen während dieser Zeit. Immer wieder gehen die Männer die Reihen entlang und sehen nach, ob alle gut versorgt sind. Hier zählt nicht die Kastenzugehörigkeit, nicht Status oder Besitz: Im Gurudwara sind alle gleich.

    Der Text stammt aus dem Buch "Religionen in Hannover", hg. vom Rat der Religionen, Hannover 2016.

    ZUM WEITERLESEN:

    Umfangreiche Informationen gibt es auf der Internetseite des in Hannover befindlichen Deutschen Informationszentrum für Sikhreligion, Sikhgeschichte, Kultur und Wissenschaft
    http://www.deutsches-informationszentrum-sikhreligion.de

    Sikhismus. Eine Kurzdarstellung. Hg. von der Indian Association Bonn e.V.
    Die Broschüre ist im Gurudwara Sri Nanak Darbar kostenlos erhältlich und kann bestellt werden unter info@iab-online.org

     

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